In unserem „An der Alster-Talk“ präsentieren wir in regelmäßigen Abständen Mitglieder des IT-Executive Clubs in einem kurzen Interview. Dabei stellen wir den CIOs aus dem Norden Fragen zu ihrer Arbeit oder ihrem Unternehmen und bitten um ihre Einschätzung zum IT-Standort Hamburg und zum IT-Executive Club.
In dieser Ausgabe sprachen wir mit Dr. Michael Müller-Wünsch, Bereichsvorstand Technology (CIO) der Otto GmbH & Co. KG und Vorstandsmitglied des IT-Executive Club, am Steg an der Alster über seinen Weg in die Informationstechnologie, die entscheidenden Eigenschaften eines erfolgreichen CIOs und seine Gedanken zur Hansestadt.
Name: Dr. Michael Müller-Wünsch
Unternehmen: Otto GmbH & Co. KG
Die OTTO-Einzelgesellschaft ist Teil der international tätigen Otto Group und beschäftigt deutschlandweit rund 6.000 Mitarbeiter:innen. Mit einem Sortiment von mehr als 14,5 Millionen Artikeln und 19.000 Marken von über 5.500 Marktplatz-Partnern, ist OTTO der größte deutsche Onlineshop. In Hochphasen gehen über die Plattform bis zu zehn Bestellungen pro Sekunde ein. Jede zweite Waschmaschine, die im Internet bestellt wird, und jeder dritte online georderte Fernseher kommt von OTTO.
Position: Bereichsvorstand Technology (CIO)
Interview geführt von: Felicitas von Kap-herr
Eigentlich wollte ich Sportmediziner werden. Sport spielte immer eine Rolle – sei es Fußball oder Tennis. Auch heute schaffe ich dadurch den Ausgleich zum Berufsalltag. Als es vor rund 40 Jahren bei der Berufswahl allerdings ernst für mich wurde, befand sich die Gesundheitsindustrie gerade im Umbruch. Ich bin dann klassisch in der Berufsberatung gefragt worden, was mich neben dem Sport denn sonst noch interessiert. Das konnte ich glücklicher Weise sehr klar beantworten: IT. Ich habe dann 1980 mein Informatikstudium in Berlin begonnen. Vor allem die Forschung rund um Künstliche Intelligenz hatte es mir angetan. Da ich nebenbei noch Betriebswirtschaftslehre studiert habe, habe ich diese beiden Themenbereiche in meiner Doktorarbeit verschmolzen und rund elf Jahre dazu geforscht, wie mithilfe künstlicher Intelligenz Unternehmensstrategien entwickelt werden können – wie relevant und tagesaktuell diese Frage über 40 Jahre später sein würde, hat man damals nur erahnen können.
Bei OTTO beschäftigen sich mittlerweile weit über 100 Expert:innen ausschließlich mit KI – und das nicht erst seit ChatGPT und Co. Wir setzen aktuell bereits mehr als 40 KI-Produkte in praktisch sämtlichen Wertströmen ein – das reicht von Absatzprognosen zur Optimierung unserer Lagerbestände hin zur wettbewerbsfähigen Preisgestaltung. Wir benutzen zudem eine KI-basierte Bilderkennung, die verhindert, dass im wachsenden Marktplatz-Geschäft unerwünschte Artikel auf OTTO angeboten werden. Dafür filtert die KI beispielsweise verfassungswidrige Symbole oder Nacktheit heraus.
Unsere Kund:innen erleben KI bei uns vor allem durch die Personalisierung ihres Einkaufserlebnisses. KI ermöglicht es uns, auf Basis des Nutzerverhaltens passgenaue Produktvorschläge zu machen. Zudem testen wir als erster Online-Marktplatz in Deutschland ab sofort einen KI-Assistenten im Shop und schaffen damit eine echte Innovation im Onlinehandel: Kund:innen geben auf otto.de ihre Frage in einer Chatleiste direkt über den Produktbewertungen ein. Anschließend erhalten sie innerhalb von Sekunden eine Antwort, die auf den vorhandenen Bewertungen, der Produktbeschreibung und dem Produkttitel basiert. Das schafft Orientierung und ist ungemein hilfreich für Kund:innen. Letztlich hilft es auch, Retouren zu vermeiden – was nicht zuletzt aus Nachhaltigkeitsgründen ein gewichtiger Faktor ist. Das Feature testen wir derzeit an 180.000 Produkten.
KI wird aber auch zur schnellen Beantwortung einfacher und wiederkehrender Kund:innen-Anfragen eingesetzt, um bei unseren Service-Mitarbeitenden Kapazitäten für komplexere Anliegen zu schaffen.
Mehr und mehr müssen wir uns die Frage nach dem verantwortungsvollen Umgang mit künstlicher Intelligenz stellen. Das betrifft sowohl den ethischen Faktor als auch den praktischen Einsatz beispielsweise im Berufsalltag. Die ethische Anwendung der Technologie ist für uns nicht neu. Wir setzen ja bereits seit über zehn Jahren KI-Lösungen ein. Diese Produkte haben wir über Jahre entlang unseres „Code of Ethics“ entwickelt und weiterentwickelt. Wir haben zudem damit begonnen, sämtliche KI-Anwendungsfälle intern zu dokumentieren und einen “Single Point of Contact” für KI Governance eingerichtet. Denn generative KI wie ChatGPT oder Midjourney werfen noch einmal ganz neue Fragestellungen beispielsweise mit Blick auf das Urheberrecht auf. Diese Aspekte werden wir alle verstärkt diskutieren müssen.
Darüber hinaus müssen wir natürlich auch aufklären und ggf. auch Sorgen der Mitarbeitenden adressieren. KI wird zweifelsohne Arbeitsplätze und Tätigkeiten verändern. Das heißt aber nicht zwingend, dass sie Mitarbeitende ersetzen wird. Stattdessen werden immer mehr Menschen zu Anwender:innen von KI werden und so ganz neue Potenziale erschließen können. Mitarbeiter:innen mit guten KI-Lösungen können noch mehr erreichen als Mitarbeiter:innen ohne.
Hier ist es wichtig, ein ausreichendes Informationsangebot zu schaffen. Neben unserer internen Initiative „Pushing AI“, die den zielgerichteten und ethischen Einsatz von KI bei OTTO vorantreibt, bespielen wir diverse interne Kanäle, auf denen aktuelle KI-Lösungen auch für nicht Tech-Kolleg:innen verständlich erklärt werden. Zudem haben wir im vergangenen Monat gemeinsam mit der Otto Group eine konzernweite KI-Konferenz ausgerichtet. Hier haben interne und externe Expert:innen das Thema KI anschaulich gemacht – von aktuellen Tools und Lösungen hin zu den moralisch-ethischen Implikationen der Technologie. Zudem bin ich hier im steten Austausch mit meinen drei Vorstandskolleg:innen, um einen gemeinsamen Blick auf die Relevanz des Themas sicherzustellen, den wir dann zusammen ins Unternehmen tragen können.
Ich glaube, dass wir als Technologen einen enormen Teil dazu beitragen können, nicht nur Unternehmen zu transformieren, sondern auch Teilbereiche unserer Gesellschaft. Und diese Verantwortung müssen wir ernst nehmen. Denn der Bedarf ist da. Das zeigt sich bei den hierzulande vieldiskutierten Versäumnissen im Bildungswesen, in der Verwaltung, der Medizin etc. All das sind Bereiche, in denen die Digitalisierung kein “Nice to have” ist, sondern absolute Notwendigkeit. CIOs müssen den digitalen Wandel vom Selbstzweck entrücken und das Potenzial erkennen, wie Technologie auch auf gesamtgesellschaftliche Aspekte wie Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung, ethische Fragestellungen etc. wirken kann.
Damit Transformation gelingen kann, ist es nicht mehr damit getan, die IT als internen Dienstleister zu betrachten. Die Digitalisierung verändert komplette Geschäftsmodelle ebenso wie die Business Journeys von Kund:innen, Lieferanten, Partnern, Mitarbeitenden etc. Im Unternehmenskontext wird es daher immer wichtiger, Digitalkompetenz auf der obersten Führungsebene zu verankern, um die richtigen Handlungsfelder für die Transformation zu identifizieren und die Organisation zukunftsfähig zu machen. Bei OTTO wurde der strategische Wert der IT glücklicher Weise schon früh erkannt. An der Seite meiner drei Vorstandskolleg:innen kann ich die Relevanz von Technologie in die Organisation tragen und alle Mitarbeitenden auf der Digitalisierungsreise “mitnehmen”. Dieser kulturelle Aspekt ist entscheidend, um erfolgreich zu transformieren.
Einer der größten Meilensteine nicht nur für mich, sondern auch für OTTO insgesamt, war die Transformation zum Marktplatz. Damit haben wir unser Geschäftsmodell geöffnet, indem wir nun Partnern ermöglichen, ihre Sortimente auf der Plattform anzubieten. Was so einfach klingt, erforderte in der Praxis eine komplette Anpassung unserer gesamten Technologie-Landschaft – das war und bleibt ein Mammutprojekt. Ich bin sehr stolz auf das, was die Teams hier erreicht haben und tagtäglich weiter leisten. Denn wir sind mit unserer Transformation noch lange nicht am Ende.
Ein persönliches Highlight für mich ist es zudem, dass wir den Frauenanteil in unserer IT deutlich erhöhen konnten. Mein erklärtes Ziel ist es, mindestens 50 Prozent aller offenen Tech-Stellen mit Frauen zu besetzen. Der Gesamtanteil weiblicher Tech-Talente bei OTTO liegt schon heute bei über 30 Prozent – und damit fast doppelt so hoch wie der deutsche Durchschnitt. Darauf bin ich persönlich sehr stolz.
Bei allem Klagen über den Digitalisierungsstandort Deutschland, hat sich Hamburg in den vergangenen Jahren immer wieder als positives Gegenbeispiel hervorgetan. Sei es durch den gezielten Einsatz der Mittel zur Digitalisierung der Schulen, die Anbindung an das Glasfasernetz oder durch digital verfügbare Verwaltungsangebote. Dazu kommen zahlreiche Leuchtturmprojekte wie der digitale Hafen oder das geplante „Haus der digitalen Welt“. Diese Vorreiterschaft müssen wir gemeinsam weiter ausbauen, durch ein gutes Bildungsangebot und den gezielten Aufbau von Kompetenzen – auch durch Fachkräfte aus dem Ausland. Nicht zuletzt zählt Hamburg weltweit zu den lebenswertesten Städten. Wir haben also einen starken Standortvorteil, um auch internationale Talente anzuziehen. Ich wünsche mir, dass wir diese enormen Potenziale ausschöpfen, um die Hansestadt als Digitalstandort zum „Tor zur Welt 2.0“ zu machen.
Mein Rat? Macht es! Wir brauchen euch. Mehr als je zuvor haben Tech-Talente heute die Chance, zu gestalten und zu wirken – nicht nur im unternehmerischen, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext. Nachhaltigkeit, Ethik, soziale Verantwortung – Technologie ist der Schlüssel zu einer positiven Veränderung. Ich kann nur jede:n ermutigen, den Schritt zu gehen – ganz gleich, ob auf dem klassischen Weg oder per Quereinstieg.
Der ITEC soll der zentrale Vernetzungsort für IT- und Digital-Entscheider der Region Hamburg und des Nordens sein, wo sich Anwender mit ausgewählten TECH-Partnern in einer entspannten Atmosphäre austauschen können. Bei unseren Veranstaltungen gibt es immer wieder die Möglichkeit zum Gespräch zwischen Digital-Kolleg:innen sowie Vertreter:innen aus Politik und Wissenschaft. Die anwesenden und unterstützenden IT-Dienstleister gehen mit diesem Setup gut um, sodass es immer wieder zu angeregten Gesprächen kommt.
Diese persönliche und direkte Struktur möchte ich für die Community in Hamburg und im Norden gerne bewahren und im Sinne aller Mitglieder so geschützt weiterentwickeln. Dazu setze ich mich als Vorstand sehr gerne ein.